Hintergrund und Zielsetzung

Eine Folge des Klimawandels sind zunehmend auftretende Starkregenereignisse, bei denen sintflutartige Niederschläge mit extremen Intensitäten innerhalb kürzester Zeit auftreten. Dabei kommt es insbesondere in den hochverdichteten urbanen Gebieten häufig zu einer Überlastung des Kanalnetzes und in der Folge zu Überflutungen. Aufgrund der Tatsache, dass Sturzfluten im Gegensatz zu flussbedingten Überschwemmungen

 

  • immer und überall auftreten können und
  • sich durch kurze Vorlaufzeiten kennzeichnen,

stellen diese Ereignisse ein hohes Sicherheitsrisiko für die betroffene Bevölkerung dar. Eine effiziente Alarm- und Einsatzplanung (Krisenmanagement) ist im Vorfeld aktuell nur anhand statischer Szenarien, z. B. anhand von Starkregengefahrenkarten, möglich.

Wetterwarnungen zu Starkregenereignissen werden bei entsprechenden Wetterlagen insbesondere im Sommerhalbjahr beinahe täglich herausgegeben. Da die Warnungen aber großflächig gelten, die Starkregen aber nur lokal begrenzt auftreten, handelt es sich oft um Fehlalarme, wodurch die Gefahr der Gleichgültigkeit entsteht. Welche konkrete Überflutungs­situation aufgrund überlasteter Kanalnetze und oberflächlich abfließender Sturzfluten vorliegt, kann aktuell erst mit ihrem Eintreten beschrieben werden. Dadurch ist die zielgerichtete Warnung der betroffenen Bevölkerung nur unzureichend möglich. Die Handlungsfähigkeit für die beteiligten Akteure des Krisenmanagements wird stark beeinträchtigt und beschränkt sich häufig nur noch auf die Schadensbeseitigung.

Um dieser Problematik zu entgegnen, soll im Rahmen des beschriebenen Forschungsprojektes ein Echtzeitwarn- und Echtzeitmanagementsystem für urbane Sturzfluten unter Einsatz von KI-Verfahren, insbesondere maschinellen Lernverfahren, entwickelt werden. Ziel ist es, die Vorwarnzeiten vor Sturzfluten im urbanen Raum signifikant zu erhöhen, diese besser zu lokalisieren und gleichzeitig wichtige Informationen für das kommunale Krisenmanagement bereitzustellen, um betroffene Bürger besser zu schützen. Dazu soll eine intuitive, digitale Karte erstellt werden, die in Abhängigkeit des bevorstehenden Starkregenereignisses bereits Ort und Ausmaß der resultierenden Überflutung frühzeitig und zuverlässig darstellt und somit das konkrete Handeln der Akteure vor Ort sinnvoll unterstützt. Vorbereitete Alarm- und Einsatzpläne für Feuerwehr, Katastrophenschutz und Rufbereitschaften der Kanalnetzbetreiber können so unter Berücksichtigung der begrenzten Personalressourcen individuell an das bevorstehende Ereignis angepasst werden. So können Bürger rechtzeitig gewarnt werden und eigene Schutzmaßnahmen einleiten.

Auch die Stadt Gelsenkirchen wurde in der Vergangenheit mehrfach von Starkregenereignissen heimgesucht, die allein in den letzten elf Jahren zu vier Sturzfluten (2009, 2010, 2011 und 2015) mit besonders verheerenden Folgen geführt haben. Aufgrund ungenauer oder fehlender Informationen über Ort und Ausmaß der Ereignisse, war ein proaktives Handeln sowie die gezielte Warnung der Bevölkerung im Vorfeld kaum möglich oder Warnmeldungen wurden aufgrund der häufigen Fehlalarme ignoriert. Die Bürger wurden somit von den Sturzfluten überrascht, waren teilweise noch auf der Straße unterwegs oder hielten sich an besonders überflutungsgefährdeten Orten wie U-Bahnstationen auf. Dadurch waren Sie einer hohen Gefährdung ausgesetzt oder sogar auf die Hilfe von Rettungskräften angewiesen.

Für Behörden und Organisationen des Bevölkerungsschutzes hingegen ergab sich im Vorfeld der Ereignisse die Problematik, dass aufgrund der großflächigen Wetterwarnungen in Kombination mit den über das gesamte Stadtgebiet verteilten Schwerpunkten sowie gleichzeitig begrenzten Ressourcen an Betriebspersonal und Fahrzeugen die zielgerichtete Bearbeitung von vorbeugenden Maßnahmen nicht möglich war. Als besonders problematisch hat sich zudem die durch Autobahnen und Bahnstrecken hervorgerufene Unterteilung der Stadt in Teilgebiete erwiesen. Zwar sind die einzelnen Gebiete durch mehrere Straßenunterführungen verkehrstechnisch miteinander verbunden, im Fall eines Starkregenereignisses kann es allerdings zu Überflutungen der Unterführungen kommen. Dadurch sind Teile der Stadt für die Feuerwehr und andere Einsatzkräfte nur schwer erreichbar. Ein System, das die statischen Starkregengefahrenkarten durch Echtzeitinformationen schon vor Ereigniseintritt über das tatsächliche Ausmaß von Überflutungen ergänzt, kann rechtzeitig Hinweise zur optimalen Routenauswahl geben und damit wertvolle Zeit sparen, die im Einsatzfall benötigt wird (Warn- und Handlungskonzept, Lösung im AP 7).

Die Problematik der Trennung ganzer Stadtteile durch Unterführungen stellt insbesondere in Metropolregionen wie dem Ruhrgebiet aufgrund von zahlreichen Autobahnen und Bahntrassen ein weitverbreitetes Problem dar. Aber auch in anderen Regionen wie beispielsweise in Bremen (SUBV Bremen, 2015) kommt es zu der beschriebenen Problematik. Darüber hinaus haben vergangene Starkregenereignisse gezeigt, dass sich nicht nur Geländetiefpunkte wie Unterführungen zu Hindernissen entwickeln, sondern sich auch ganze Straßenzüge innerhalb kürzester Zeit in reißende Ströme verwandeln können und somit Rettungswege für Hilfskräfte blockieren (Funk, 2018). Der Bedarf für ein effizientes Echtzeitwarnsystem ist somit nicht auf Gelsenkirchen begrenzt, sondern deutschlandweit gegeben.

Als wesentliche Gründe, die für die zuvor genannten hohen Ungenauigkeiten in den Vorhersagen von Starkregenereignissen und den daraus resultierenden Sturzfluten verantwortlich sind, sind folgende Punkte zu nennen:

  • Die geringe räumliche Dichte der bestehenden hydrologischen Messnetze reicht für die Erkennung von Starkregen und Überflutungsgebieten nicht aus (LowCost-Sensorsystem, Lösung im AP 2).
  • Die Datenqualität günstiger Sensoren führt zu großen Unsicherheiten bei der Abbildung hydrologischer Systemzustände (Datenqualitätsmanagement, Lösung im AP 3).
  • Die gemäß Stand der Technik eingesetzten Vorhersagealgorithmen reichen für die detaillierte Abbildung der hohen Dynamik des Starkregenprozesses nicht aus (Niederschlagsvorhersagemodell, Lösung im AP 5).
  • Lange Rechendauern der eingesetzten physikalisch-basierten Modellansätze verhindern eine Echtzeitanwendung (Überflutungsvorhersagemodell, Lösung im AP 6).

Mit dem hier beschriebenen ganzheitlichen Projektvorschlag sollen gleich alle vier Probleme angegangen werden. Künstliche Intelligenz (KI) in Form von Maschinellem Lernen (ML) soll dabei als zentrales Element zum Einsatz kommen. Einerseits sollen moderne Maschinelle Lernverfahren dazu dienen, Zusammenhänge und Muster bei der Entstehung von Starkregenzellen zu erlernen sowie Fehlermuster in räumlich verteilten Messdaten zu erkennen, um künftig die zeitliche und räumliche Entwicklung von Starkregenzellen besser vorhersagen zu können. Andererseits soll ML eingesetzt werden, um die Beziehung zwischen Niederschlag und dem daraus resultierenden Abfluss zu erlernen, um so Überlastungen des Kanalnetzes und in der Folge Überschwemmungen besser beschreiben zu können.

Voraussetzung für den effizienten Einsatz von Maschinellen Lernverfahren ist zunächst ein intensiver Trainingsprozess, für den wiederum eine große Datenbasis erforderlich ist. Im vorliegenden Vorhaben soll die für das Anlernen und Evaluieren der Verfahren erforderliche Datenbasis aus verschiedenen Quellen erhoben werden (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Echtzeitwarn- und Entscheidungsunterstützungssystem für urbane Sturzfluten

Einerseits wird auf vorhandene Messdaten zurückgegriffen, die insbesondere für den Niederschlag bereits für mehrere Jahrzehnte erfasst wurden und entweder bei den assoziierten Projektpartnern Emschergenossenschaft und Lippeverband sowie dem Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW vorliegen oder über den Deutschen Wetterdienst (DWD) kostenlos bezogen werden können. Für den niederschlagsbedingten Abfluss hingegen liegen derzeit kaum Daten vor, weshalb hier physikalisch basierte Abflussmodelle der Abwassergesellschaft Gelsenkirchen genutzt werden, um künstliche Trainingsdaten zu generieren. Darüber hinaus soll ein innovatives LowCost-Sensorsystem zur Nachverdichtung bzw. Ergänzung der Datenbasis errichtet werden. Sämtliche Datenströme sollen in einer zentralen Datenplattform zusammengeführt (vgl. Abbildung 1) und durch entsprechende Transformationsprozesse in ein ML-geeignetes Format gebracht und für die Vorhersagemodelle zur Verfügung gestellt werden (Datenplattform inkl. Visualisierungsoberfläche, Lösung im AP 4).

SUBV Bremen (2015): KLimaAnpassungsStrategie Extreme Regenereignisse (KLAS).

Schlussbericht des Projektes „Umgang mit Starkregenereignissen in der Stadtgemeinde Bremen“. Durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) unter dem Förderkennzeichen 03DAS005 gefördertes Projekt. Bremen. Online verfügbar unter https://www.klas-bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen02.c.740.de, zuletzt geprüft am 08.05.2020.

 

Funk, Kyra (2018): Land unter in Wuppertal: Eingestürzte Dächer und ein geflutetes Ein-kaufszentrum.

In: Stern, 29.05.2018. Online verfügbar unter https://www.stern.de/panorama/wetter/wuppertal–eingestuerzte-daecher-und-ein-geflutetes-einkaufszentrum-8001352.html, zuletzt geprüft am 02.11.2020.